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Spazierengehen: Wie ich meinen Gedanken Beine mache

Spazierengehen? War nie meins. Doch weil der Alltag an mir zerrt, sehne ich mich nach entspannenden Alternativen zum Leistungssport. Also los: Ein Selbstexperiment über die Entdeckung der Langsamkeit.

Eigentlich kenne ich nur zwei Aggregatzustände meines Körpers: fest oder flauschig – angespannter Sprint oder Herumlungern auf der Couch. Spazierengehen, das langsame Gehen, ist für mich eine unnatürliche Geschwindigkeit. Für gewöhnlich bewege ich mich entweder sehr schnell oder gar nicht.

Dieses Alles-oder-Nichts ist aber eine gefährliche Abwärtsspirale. Weniger körperlicher Ausgleich im Alltag bedeutet weniger Energie, weniger Ausdauer und noch dazu Rückenprobleme. Am Ende dieser Spirale scheint es mir fast unmöglich, wieder in eine gesunde Sportroutine zu finden.

In gekrümmter Körperhaltung tippe ich also dieses Postulat für mehr Bewegung im Alltag in die Tasten. Dabei weiß ich selbst nicht, wie das in moderater Ausführung gehen soll. Vielleicht gibt es zwischen Sprint und Stillstand ja noch die Langsamkeit, die ich bisher als ermüdendes Unterfangen abgetan habe. Ist Spazierengehen vielleicht ein angenehmer Kompromiss für hektische Tage?

Spazierengehen: Eine langweilige Alternative zu echtem Sport?

Von Friedrich Nitzsche stammt der schöne Satz: „Traue niemals einem Gedanken, bei dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.“ Er spricht mir aus der Seele. Bewegung ist mir nicht nur ein körperliches Anliegen, sie war für mich schon immer ein geistiger Ausgleich. Psychohygiene, die von den Zehenspitzen in die Synapsen schießt. Früher standen für mich vor allem Disziplin, Leistung und Konsequenz hinter den täglichen Trainingseinheiten beim Boxen, CrossFit oder der Halbmarathon-Vorbereitung. Heute haben sich meine Prioritäten verändert: Bewegung soll meinen Geist nicht stärker machen, sie soll ihn vor allem entlasten.

Ob Spazierengehen das kann, weiß ich noch nicht. Dabei sind die positiven Effekte des Gehens auf den Körper eigentlich gut erforscht: Das Herz-Kreislauf-System wird angeregt, das Immunsystem gestärkt, das Demenzrisiko sinkt um die Hälfte und Depressionen wird vorgebeugt. Zudem soll geringfügiges tägliches Gehen sogar das Risiko eines frühzeitigen Todes um 30 Prozent verringern! Bei den Aussichten möchte man direkt losmarschieren. Vorher aber nochmal die Wissenschaft befragen, was beim Spazierengehen eigentlich passiert.

Gehen oder Wandern: beides macht zufriedener und kreativer

Bewegung in der Natur wirkt stressreduzierend. So haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Michigan in einem Beitrag im Fachmagazin Frontiers in Psychology dargelegt, dass sich bei 20-minütigem Spazierengehen im Grünen der Cortisol-Spiegel senkt. In Japan hingegen braucht man dafür keine Studien: das sogenannte Waldbaden ist dort echter Volkssport, man nennt es Shinrin-Yoku. Heute weiß man natürlich, dass sich die in der Waldluft enthaltenen ätherischen Öle sehr positiv auf den Körper auswirken und nicht nur Stress reduzieren, sondern auch das Immunsystem stärken und den Teil des Nervensystems, der für erhöhte Leistungsbereitschaft steht, den Sympathikus, beruhigen. Der Körper verfällt also in einen angenehmen Ruhezustand und regeneriert.

Der quasi extremsten Form des Spazierengehens, dem Bergwandern, widmeten sich Forschende im Auftrag des Deutschen Alpenvereins. Sie untersuchten nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen Folgen des Wanderns. Das Ergebnis ist eindeutig: Lebenszufriedenheit, Demut, Dankbarkeit und Gelassenheit steigen deutlich beim Wandern. Und was genau passiert da im Körper?

Wissenschaft belegt: Spazierengehen ist gut für Körper und Geist

Unser Gehirn wird besser durchblutet, was die Nervenzellen mit mehr Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Dadurch können sich leichter neue Zellen im Gehirn bilden. Bewegung an der frischen Luft wirkt sich zudem positiv auf unsere Stimmung aus. Freigesetzte Endorphine und die von der Sonne aufgetankten Vitamin-D-Speicher verbessern die Laune.

Dass Spaziergänge auch unsere Gedanken in Bewegung bringen, zeigen zudem zahlreiche therapeutische „Walk & Talk“-Angebote. Der Gesprächstherapie-Erfolg soll im Gehen deutlich höher sein, als im Sitzen. Während sich der Körper bewegt, geraten auch festgefahrene Gedanken in Bewegung. Nicht umsonst pflegte schon Aristoteles, seine Philosophien beim Spazieren durch den Peripatos (griechisch für Wandelgang) des Lykeion-Gymnasiums zu entwickelt. Die Anhänger seiner Philosophieschule nannten sich selbst Peripatetiker, von griechisch peripatein, also: umherwandeln.

Beflügelt die Gedanken: Langsames Gehen

Beim Spazierengehen entstehen also neue Ideen. Das bestätigen auch Forscherinnen und Forscher der Stanford University. Sie untersuchten, wie Bewegung und Kreativität zusammenhängen. In ihrer Studie heißt es: „Beim Spazierengehen fließen die Ideen besser, während sich unsere Kreativität und die körperliche Fitness erhöhen.“ Durchschnittlich stieg die Kreativität der Probanden um 60 Prozent an, wenn sie beim Lernen umherspazierten. Darüber hinaus wirke sich Gehen positiv auf die Zufriedenheit aus: Die Forschungs-Ergebnisse legen nahe, dass es dazu keinen Extremsport braucht. Schon leichte Bewegung macht glücklicher. Aber stimmt das auch für mich?

Heinrich von Kleist hat einmal den klugen Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ verfasst. Münzt man seine Worte frei auf das langsame Gehen um, dann funktioniert die Vollendung der Gedanken beim Spazierengehen am besten. Wohl auch, weil wir beim Gehen in der Natur nicht wie sonst alle 10 Sekunden aufs Handy schauen (vorausgesetzt, man achtet tatsächlich auf die Umgebung).

Selbstexperiment: Ziellos spazierengehen, warum also sprinten?

Theoretisch ist soweit also alles klar: Doch ganz praktisch gefragt, was sagen diese Studien über mich aus? Kann mich Spazierengehen genauso glücklich machen wie Joggen? „Runner’s High“ inklusive? Ich ziehe meine Schuhe an und gehe los.

Ich bin neu in der Nachbarschaft und kenne mein Grätzl noch nicht sehr gut. Vor kurzem bin ich an den Stadtrand gezogen, um näher am Grünen zu leben. Meine Ausgangslage eignet sich also ausgezeichnet, um regelmäßiges Spazierengehen in meinen Alltag zu integrieren. Die ersten Meter führen mich durch eine Kleingartensiedlung. Mit jedem Schritt schießen mir Gedanken durch Kopf wie Kometen: Hab‘ ich eine Deadline übersehen? Sind alle Rechnungen bezahlt? Wann habe ich meine Oma zuletzt im Pflegeheim besucht? Zugegeben: leicht fällt mir das Abschalten nicht. Ich versuche immer wieder meinen Fokus zurück auf das Gehen zu lenken und beschließe irgendwann, mit jedem Schritt etwas in meiner Umgebung bewusst wahrzunehmen: Den Vogel am Zaun, das Sonnenlicht auf den Baumwipfeln oder den fleißigen Nachbarn, der sein Blumenbeet pflegt und strahlt.

Schließlich biege ich in einen Seitenweg hinter einer Bushaltestelle ein. Der Weg ist schattig und schön, meine Gedanken werden ruhiger. Offenbar habe ich die Eindrücke der Natur soweit internalisiert, dass sich meine Gedanken nicht mehr um meinen hektischen Alltag drehen, sondern um die Dinge vor meinen Augen. Mein Puls ist langsamer und meine Schritte gemächlicher. Ich habe kein Ziel, warum also sprinten?

Ein Hoch auf die Absichtslosigkeit: Was Spazierengehen bringt

Also ich nach einer Stunde wieder zu Hause ankomme, ist das einzige, was mich an die Uhrzeit erinnert, die untergehende Sonne. Mit dem Schritt in meine Wohnung hat mich der Alltag leider wieder – so schnell geht das wohl doch nicht mit der inneren Ruhe. Immerhin hat mich das Spazierengehen zumindest für eine Zeit auf andere Gedanken gebracht und auch mein Körper fühlt sich gut an: Der Rücken aufrechter, die Sehnen geschmeidig, der Herzschlag kräftig.

Einmal am Tag etwas nur für mich zu tun, mit keiner anderen Absicht als der Selbstreflexion, hat sich als unverhoffte Abhilfe gegen innere Anspannung erwiesen. Glaubt man den Studien, ist mein Cortisol gerade im Keller, während mein Vitamin-D-Haushalt durch die Decke schießt. Statt mich selbst im Sprint zu schlagen, hat der gemütliche Spaziergang aber noch etwas anderes bewegt: Die Gedanken in mir und die Welt um mich herum sind jetzt angenehm langsam.