Zucker: Jeder konsumiert gefährlich viel
04. November. 2022
Nicht mehr fünf Teelöffel Zucker täglich sollten wir zu uns nehmen. Das schafft kaum jemand von uns. Deshalb auf Zuckerersatzstoffe umzuschwenken, ist aber keine gute Idee.
Schokolade, Eis und Co sind echte Zucker-Bomben. Das ist allen klar. „Sie sind aber nicht unser größtes Problem“, sagt Christian Matthai, Wiener Ernährungs- und Vitalstoffmediziner sowie Buchautor („Leichter werden“). „Dass fast jeder von uns zu viel Zucker konsumiert, liegt vor allem daran, dass Unmengen Zucker in unseren alltäglichen Lebensmittel versteckt sind.“
Da wird es schwer, mit der empfohlenen Ration der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auszukommen: Sie empfiehlt pro Tag nicht mehr als circa 25 Gramm Zucker zu essen. Das entspricht etwa fünf Teelöffeln. Zum Vergleich: Nach dem Konsum von nur einem Fruchtjoghurt ist die Tagesration schon erreicht …
Gut versteckt: Zucker hat viele Namen
Experte Matthai weiß ganz genau, wovon er spricht. Er hat 365 Tage komplett zuckerfrei gelebt und seine Erfahrungen auf einem Blog dokumentiert. Eine der größten Herausforderungen beim zuckerfreien Leben: „Man muss überhaupt erstmal herausfinden, wo überall Zucker versteckt ist. Ob Maltose, Fructose, Maltit oder Molkenpulver: Es gibt mehr als 70 verschiedene Bezeichnungen für Zucker.“
Auch viele salzige Speisen (z.B. Chips, Toast oder andere Weißmehlprodukte) sind echte Zuckerbomben, aber auch Müsli. Sie bestehen nämlich aus sehr einfachen Kohlenhydraten, die im Körper letztlich als Zucker verwertet werden und lassen unsere tägliche Zuckerbilanz damit noch on top in die Höhe steigen. „Selbst wer also auf Schokolade und Gummibärchen verzichtet, kann trotzdem mehr Zucker zu sich nehmen, als er denkt. Und als gut für ihn ist“, sagt der Mediziner.
Darum ist Zucker noch ungesünder als wir dachten
Zucker hat viele Kalorien. Essen wir viel davon, nehmen wir mehr Kalorien auf als wir verbrauchen, der Körper speichert diese Energie als Fett und wir werden dick. Das weiß jedes Kind. Auch, dass Zucker die Haut altern lässt, ist bekannt. „Was viele nicht wissen oder unterschätzen: Wie Zucker auf unsere Vitalität und Lebensqualität wirkt“, sagt Matthai.
Beispiel: Fructose ist eine Zuckersorte, die nur über die Leber verstoffwechselt werden kann. Essen wir zu viel, ist die Leber überlastet. „Inzwischen leidet fast jeder dritte Erwachsene an einer Fettleber. Warum? Weil Fructose unfassbar vielen Lebensmitteln beigesetzt wird.“
Aber nicht nur die Leber leidet. Längst ist ein Zusammenhang zwischen schlechten Cholesterinwerten und Zuckerkonsum bekannt. Außerdem lässt Zucker den Insulinspiegel steigen, was uns im Alltag nicht nur müde macht, sondern im schlimmsten Fall (bei konstant übermäßigem Zuckerkonsum) zu einer Insulinresistenz und so zu Diabetes führen kann. „Überdies wird durch Zucker die Bildung von Harnsäure begünstigt und so die Gefahr von Gicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht.“ Und. Und. Und.
Zucker macht glücklich? Nein, süchtig!
Dass wir den süßen Geschmack trotz all der Gefahren so gerne mögen, liegt scheinbar in unseren Genen. Ein süßer Geschmack bedeutete für unsere Vorfahren „nicht giftig“ – im Gegensatz zu bitteren und sauren Aromen.
Heute bedeutet uns Zucker aber noch mehr: Wir erleben durch Zucker einen kleinen Wohlfühl-Rausch. Denn Zucker führt zur Ausschüttung des Happy-Hormons Dopamin. Fakt ist aber auch: „Je mehr Zucker wir essen, desto mehr gewöhnt sich das Gehirn daran. Die Dopaminrezeptoren werden heruntergefahren und man braucht eine größere Dosis Zucker, um wieder happy zu sein“, so Matthai.
Zucker macht also süchtig – genau wie eine Droge. Mit einer fatalen Besonderheit: Zucker ist frei verkäuflich. Auch für Kinder – und wird gerade bei ihnen groß beworben: 92 Prozent der TV- oder Web-Werbung, die Kinder sehen, betreffen Süßes, Fastfood und ungesunde Snacks, stellte eine Studie der Hamburger Universität fest. Und ein Foodwatch Report fand heraus: Vor allem junge Social-Media-Influencer platzieren immer öfter namenhafte Schokoriegel, Softdrinks und Co in ihren Posts und Storys platzieren. Also an Stellen, wo es Eltern oft gar nicht mitbekommen.
Ersatzstoffe: Eine gute Alternative?
Xylit, Erythrit, Stevia, Saccharin, Allulose und Co: Große Chemielabore wetteifern mit der Erfindung einer ultimativen Zucker-Alternative. Und tatsächlich schreitet die Entwicklung voran. Süßungsmittel, wie z.B. Allulose, stehen gewöhnlichem Haushaltszucker in Geschmacksfragen kaum noch nach. Einige Ersatzstoffe (z.B. Xylit) lassen sogar den Insulinspiegel nahezu unberührt und sind nicht kariogen, fördern also nicht die Kariesbildung.
„Dennoch sind vermeintliche „Light-Produkte“ nicht unbedingt die beste Lösung“, findet der Mediziner. Gründe dafür gibt es mehrere. Der erste ist ganz einfach: Zuckerersatzstoffe sind künstlich hergestellt. „Natürliche, unverarbeitete Produkte sollten immer Vorrang haben“, sagt der Experte.
Im Detail lassen noch weitere Fakten daran zweifeln, dass Zuckerersatzstoffe die Non-Plus-Ultra-Lösung sind. Saccharin, zum Beispiel, vermittelt dem Körper kein Sättigungsgefühl, so dass es nach dem Verzehr weiterhin zu (Heiß-)Hunger kommen kann. Nicht umsonst werden gewisse Zuckerersatzstoffe in der Schweinemast als Appetitanreger eingesetzt. Abgesehen davon fehlt es bei einigen Produkten noch an einer ausführlichen Datenerhebung, um eine abschließende Einschätzung möglicher Gesundheitsrisiken abgeben zu können.
Klar, Hersteller vergewissern, dass ihr Produkt nur so geringe Mengen von Zuckerersatzstoffe enthält, dass von eben diesem Produkt keine Gefahr ausgeht, sagt Matthai. „Doch kann niemand mit Gewissheit sagen, was es mit uns macht, wenn wir pro Tag verschiedene solcher so genannten „Light-Produkte“ essen und dadurch die aufgenommene Menge an Zuckerersatzstoffen erhöhen.“
Zu guter Letzt lösen Zuckerersatzstoffe auch nicht das eigentliche Problem: Unser psychisches Verlangen nach süßen Belohnungen lässt sich nicht austricksten. Zwar stimulieren Zuckerersatzstoffe nicht unsere Dopaminrezeptoren, dennoch sind wir den süßen Geschmack gewohnt und suchen danach.
„Ich will Zuckerersatzstoffe nicht gänzlich verteufeln. Hin und wieder spricht auch nichts gegen ihren Konsum. Man sollte nur nicht davon ausgehen, dass sie eine unkritische Alternative zu Zucker darstellen“, betont der Experte.
Zuckerverzicht: Ist das die einzige Lösung?
Theoretisch wäre es sehr gesund, wenn wir auf Zucker verzichten würden. Praktisch ist das aber alles andere als einfach. Süßes schmeckt einfach zu gut. Abgesehen davon begegnet er uns im Alltag fast überall. Und ohnehin fühlen sich radikale Verbot nicht gut an.
Wie wäre es daher nicht mit einem Tabu, sondern einem Kompromiss? „Aus meiner Sicht kann man ruhig hin und wieder Schokolade, Eis und Co essen. Was zählt, ist ein Mittelmaß und ein bewusster Konsum.“
Wer achtsam einkaufen geht und kocht, statt blind auf Fertigprodukte zu vertrauen, kann seinen Zuckerkonsum maßgeblich mindern. Unverarbeitete, natürliche Produkte haben in der Regel kaum Zucker. Gemüse, Proteine und komplexe Kohlenhydrate (z.B. aus Hülsenfrüchten) stellen die Grundlage einer gesunden, zuckerfreien Ernährung dar.
Ansonsten helfen kleine Tricks: Reduzieren Sie beispielsweise die in einem (Kuchen-)Rezept vorgesehene Zuckermenge um die Hälfte. Das Gericht wird trotzdem gut schmecken, ist aber deutlich gesünder. Auch bei Getränken, gerade für Kinder, wachsam sein: Trinken Sie Wasser statt Saft, Limo und Co.
Und wer Lust auf Süßes verspürt, kann versuchen, sein Verlangen auf andere Art zu befriedigen. „Man darf nämlich die mentale Komponente des Zuckerkonsums nicht unterschätzt.“ Süßes dient als Belohnung, Beruhigung oder Verwöhn-Moment. Idealerweise schaffen wir hierfür Alternativen, die am besten gar nichts mit Essen zu tun haben – Stichwort „achtsam essen“. Denn letztlich verlangt nicht der Körper nach Schokolade, sondern nur der Kopf.